Die Gründerin: Wilhelmine Canz
Bildungspionierin und Visionärin
Wilhelmine Canz (1815 - 1901) war eine durchsetzungsfähige Frau aus dem Bildungsbürgertum mit einer Vision. Mitte des 19. Jahrhunderts wollte sie jungen Frauen Heimat und eine berufliche Perspektive geben und gleichzeitig Kindern der damals verelendenen Landbevölkerung Bildung und einen Zugang zum Glauben vermitteln. Wilhelmine Canz, die ihre Kraft aus einem tiefen christlichen Glauben zog, gründete mit bescheidenen Mitteln und ohne fremde Unterstützung 1856 die »Bildungsanstalt für Kleinkinderpflegerinnen« in Großheppach. Der Ruf der Einrichtung verbreitete sich schnell. Zahlreiche junge Frauen ergriffen die Chance, sich eine eigene berufliche Perspektive aufzubauen. Großheppacher Schwestern, ausgebildet in Großheppach genossen einen hervorragenden Ruf. Sie arbeiteten als Kinderschwestern in Kindergärten in ganz Württemberg.
Das Werk der ›Mutter Canz‹, wie sie damals liebevoll von ihren Mitschwestern genannt wurde, lebt weiter: Aus der Bildungsanstalt für Kleinkinderpflege und dem Kindergärtnerinnen-Seminar ist 1973 die staatlich anerkannte Evangelische Fachschule für Sozialpädagogik in Weinstadt-Beutelsbach hervorgegangen. Hier werden heute nach zeitgemäßen pädagogischen Standards Erzieherinnen und Erzieher sowie Kinderpflegerinnen und Kinderpfleger ausgebildet.
Das Leben der Wilhelmine Canz
1815 Am 27. Februar wird Wilhelmine Friederike Gottliebin Canz in Hornberg im Schwarzwald geboren. Ihr Vater ist der Oberamtsarzt Gottlieb Eberhard Friedrich Canz. Er ist seit 1811 in zweiter Ehe verheiratet mit Christina Wilhelmina Gottliebin Cronmüller aus Ober-Urbach im Remstal.
1823 Der Vater stirbt am 8. Juli.
1824 Nach dem frühen Tod ihres Mannes zieht die Mutter mit Wilhelmine und deren älterem Bruder Karl in die Universitätsstadt Tübingen. Dort studiert der Bruder Theologie, und Wilhelmine kann über Jahre hinweg an Privatstunden im Hause eines befreundeten Professors teilnehmen. Dieser Unterricht wird die Grundlage ihrer Bildung.
1839 Karl Canz wird auf seine erste Gemeindepfarrstelle in Buchenberg bei Königsfeld berufen. Er hatte dringend gewünscht, dass Mutter und Schwester zu ihm ziehen möchten. Bis dahin war Karl Canz ein begeisterter Anhänger des großen Philosophen Hegel. Der Bruder versucht, Wilhelmine von den Gedanken Hegels zu überzeugen und sie für diese Philosophie zu begeistern. Die Begegnung mit der nahe gelegenen Brüdergemeinde in Königsfeld mit ihren täglichen Losungen verstärken ihre innere Hinwendung zu einem bewussten persönlichen Glauben an den dreieinigen Gott.
1844 wird der Bruder Pfarrer in badischen Bischoffingen am Kaiserstuhl. Wieder begleiten ihn Mutter und Schwester. In dieser Zeit beginnt Wilhelmine Canz mit dem Schreiben ihres dreibändigen Romans „Eritis sicut Deus“ („Ihr werdet sein wie Gott“).
1845 Von diesem Jahre an ist man im Pfarrhaus in Bischoffingen mit der Anstalt in Leutesheim, später in Nonnenweier, in Verbindung und interessiert sich für die Sache der Kleinkinderpflege.
1846 und 1847 beschäftigt Wilhelmine Canz der Gedanke, eine Kinderschule einzurichten, „weil man beim Bauen am Grund anfangen soll“. Im eigenen Hof und der eigenen Scheune – andern Platz gibt es nicht – ist Raum für die erste Kinderpflege. Dies war der arme Anfang einer Sache, die für das spätere Leben der Wilhelmine Canz von größtem Einfluss war.
1850 stirbt die Mutter in Bischoffingen. Im Herbst besucht Regine Jolberg, die Hausmutter der Anstalt in Nonnenweier, die Kinderschule in Bischoffingen. Sie erwähnt, wie nötig es wäre, dass man Mutterhäuser gründet, um Kinderpflegerinnen für diesen Beruf auszubilden.
1853 erscheint im Verlag des Rauhen Hauses in Hamburg anonym der Roman „Eritis sicut Deus“. Er erlebt zwei Auflagen. Das Honorar der ersten Auflage überlässt Wilhelmine Canz ganz dem Rauhen Haus. Inhaltlich ist das schriftstellerische Werk geprägt von der Darstellung der Lebens-, Glaubens-, Liebes- und Ehekrisengeschichte einer Elisabeth Schärtel mit ihrem Ehemann Robert.
1854 Anfang September reist Wilhelmine Canz nach Stuttgart. In ihrem Herzen trägt sie immer noch die Aufforderung der Regine Jolberg, den Anstoß zu geben zur Errichtung einer Anstalt für die Ausbildung von Kinderpflegerinnen und eine Hausmutter dafür zu suchen. So geht sie zu Prälat Sixt und Carl Kapff, kommt aber zu ungelegener Stunde. Er vertritt die Meinung: Man soll dem kleinen Württemberg zu seinen 22 Rettungsanstalten keine weiteren Anstalten zumuten.
Am 11. September stirbt ihr Bruder. Der plötzliche Tod zwingt Wilhelmine, ihr Leben neu zu ordnen. Ihre Schwägerin zieht wieder in ihre Heimat, in die Nähe ihrer Eltern. Wilhelmine Canz schreibt daraufhin Prälat Kapff, der ihr am 8. November. Sie erhält eine ablehnende Antwort.
In einer kleinen Gesellschaft im Kreise ihrer Tanten erzählt Wilhelmine Canz von dem Plan, eine Anstalt zu gründen. Dabei gehen ihre Gedanken immer ins Remstal, aus dem ihre Mutter stammte. In dieser Zeit erreicht Wilhelmine die Nachricht, Assessor Clausnitzer lasse sie bitten, ihn in Stuttgart aufzusuchen, er möchte mit ihr über die zu errichtende Anstalt sprechen. Am 22. Juni findet dieses Gespräch statt, in dem er ihr u. a. sagt: „Suchen Sie sich einmal ein Komitee; mit dem wird dann auch die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins in Verbindung treten und einen Beitrag geben.“ Damit war Wilhelmine Canz entlassen, die nun den Entschluss fasste, jetzt nichts mehr zu tun und nirgends mehr hinzugehen bis von einer geordneten Behörde, von Pfarrer und Schultheiß, aus einem Dörflein ein Ruf kommt. Und schon am anderen Tag kommt „ein Ruf“ aus Großheppach. Pfarrer Spring schreibt ihr: Er sei unmittelbar nach ihr zu Assessor Clausnitzer gekommen und habe gehört, dass sie beabsichtige, im Remstal eine Anstalt für Kinderpflegerinnen zu gründen. In seinem und im Namen des Herrn Schultheißen lade er sie ein, solches in Großheppach zu tun. Nachdem die Haus- und andere Fragen mit Pfarrer Spring und dem Kirchenkonvent geklärt waren, fährt Wilhelmine Canz von Stuttgart mit dem Eilwagen bis Waiblingen und wandert dann mit ihrem Gott allein durch das schöne Remstal der Stätte zu, die sie aufnehmen sollte, „wo mich niemand kannte, und wo ich niemand kannte“.
1855 Am 18. Oktober zieht Wilhelmine Canz im Alter von 40 Jahren mit ihrer Nichte Amalie Rhode auf Einladung von Pfarrer Albert Spring nach Großheppach im Remstal. Er bietet ihr zum Wohnen ein kleines Haus zur Miete an. Im November 1855 bis 1863 wurde aufgrund eines Beschlusses des Kirchenkonventes zur Einrichtung einer Kinderpflege im Dorf ein Zimmer gemietet.
1856 Der 3. Mai ist mit dem Eintritt der ersten beiden Lernschwestern die Geburtsstunde der „Bildungsanstalt für Kleinkinderpflegerinnen“ und damit des 1. Mutterhauses der Großheppacher Schwestern.
1860 Immer mehr junge Frauen kommen nach Großheppach. Das Haus wird zu klein. Wilhelmine Canz zieht zur Miete mit den Lernschwestern in ein größeres Haus, das ehemalige Gasthaus zum Löwen in Großheppach. Das Haus gilt im Ort als verflucht. Daher lässt sie über die Haustür folgenden Spruch einmeißeln: Du Haus gar wohlgegründet bist, da Jesus Christus Eckstein ist.
1863 Als das Haus zum Verkauf steht, erkennt Wilhelmine Canz, die bis hierher darauf bedacht war, alles aus eigener Kraft zu stemmen, dass die eigenen Mittel nicht ausreichen. Sie stimmt der finanziellen Unterstützung durch die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins zu. Das ehemalige Gasthaus zum Löwen wird mit Gemüse- und Baumgarten samt Hof mit Brunnen für 5 600 fl (Gulden) gekauft. Seit dieser Zeit wird Ihre Arbeit immer mehr bekannt. Alle zwei Jahre findet ein Sommerfest statt, in dessen Mittelpunkt der Jahresbericht der Vorsteherin steht.
1877 Die Bildungsanstalt für Kleinkinderpflegerinnen heißt von nun an Mutterhaus für Evangelische Kleinkinderpflege in Großheppach.
1881 Am 1. Oktober erhält die Großheppacher Schwesternschaft die staatlich anerkannte Rechtsgrundlage. Die Einrichtung wird zu einer juristischen Persönlichkeit in Gnaden durch König Karl von Württemberg. Die Oberaufsicht hat die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins in Stuttgart. 212 junge Frauen hatten bis zu diesem Jahr eine Ausbildung gemacht.
1896 Vertreter des Komitees des Wohltätigkeitsvereins in Stuttgart sind der Ansicht, dass Wilhelmine Canz nicht mehr in der Lage ist, das Haus zu leiten. Ihr Versuch ihre Nachfolge selbst zu regeln, bleibt erfolglos. Der Wohltätigkeitsverein setzt einen Inspektor ein, Friedrich Ziegler. Wilhelmine Canz zieht sich im Alter von 81 Jahren aus der aktiven Arbeit zurück. Bis 1904 übernimmt der ehemalige Missionar die Leitung des Mutterhauses.
1901 Am 15. Januar stirbt Wilhelmine Canz kurz vor ihrem 86sten Geburtstag. Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof in Weinstadt-Großheppach. Julie Georgii folgt ihr ab 1902 bis 1912 als Hausmutter und Oberin nach.